Schulentwicklung: Wie Corona die Schule verändern könnte

Heute ist Donnerstag, der 2.04.2020, fast drei Wochen nach Beginn der Schulschließungen wegen Covid19, einem gefährlichen Virus.

Stell Dir vor es ist Schule – und Keine/r geht hin.

Das war schon das Motto beim Start des Projekts “Zeitgemäß Lernen” im Jahre 2016 am Evang. Firstwald-Gymnasium in Mössingen, um uns bei unserem geplanten Paradigmenwechsel zu helfen. Von Beginn an war uns klar, dass wir alle am Schulleben Beteiligten in den Prozess der Weiterentwicklung unserer Schule einbinden wollten, und es war uns ebenso klar, dass wir keine “Tabletklassen” haben wollten, sondern dass wir, ausgehend von diesem Gedanken im ersten Satz, Schule neu denken und dabei die Weiterentwicklung des Lernens in den Mittelpunkt stellen wollten. Zusammen konzipierten wir ein gemeinsames Bild vom Lernen, das das Projekt bis heute trägt.

 

Die Digitalisierung von Schule ist per se kein Fortschritt

Wenn man nun die Berichterstattung über Schule in der Corona-Krise betrachtet, so wird häufig vom Nachholen der Digitalisierung von Schule gesprochen: Jetzt geht es endlich los, Lernplattformen werden aktiviert, Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler haben Zugriff und können endlich kommunizieren. Und das stimmt ja auch. Doch beim genaueren Blick gilt das noch lange nicht für alle Schulen (es gibt noch zahlreiche Varianten von: Zu Beginn der Woche verschicken alle eine E-Mail mit den Arbeitsaufträgen, und die Eltern drucken zuhause aus), und oftmals erschöpft sich die Digitalisierung im Versenden von PDFs über Plattformen, oder in Videokonferenzen, die zu den Zeitpunkten stattfinden, an denen sonst das jeweilige Fach im Stundenplan unterrichtet würde. Mancherorts gibt es durch die Technisierung einen 1:1-Ersatz des klassischen Schulsettings, beim Verlust des Kontakts und der Beziehung zu den Menschen.

 

Was ist gerade anders?

Inmitten der Krise fällt eine Reflexion von Entwicklung immer schwer, aber man kann Veränderungen wahrnehmen und versuchen einzuordnen. Die folgenden Felder lassen sich schnell identifizieren:

 

Kommunikation

Schulen lernen neue Wege der Kommunikation, egal von welchem Stand sie starten. Zum Telefon kommt die E-Mail hinzu, zur E-Mail die Lernplattform, zur Lernplattform das Video uvm. Viele dieser neuen Kommunikationswege ermöglichen Beziehungen zwischen am Schulleben Beteiligten und sind daher unbedingt zu begrüßen. Die Fernuniversitäten haben auf diesem Gebiet schon vielfältige Erfahrungen gemacht, von denen man hier auch profitieren kann.

Das Verhältnis zwischen LuL und SuS

In der aktuellen Situation zeigt sich wie sonst kaum, welchen Grad der Selbstständigkeit die Schülerinnen und Schüler erlangt haben, und welche Rolle wir Lehrkräfte dabei gespielt haben und spielen. Es zeigt sich, dass wir vertrauen müssen, und wenn die Beziehung stimmt, auch vertrauen können. Aber digitale Tools können auch zur kleinlichen Kontrolle ausarten (“Mein System sagt, dass Du die Aufgabe noch nicht einmal angeschaut hast!”). Das Spannungsfeld zwischen Vertrauen und Kontrolle wird offengelegt.

Motivation zum Lernen

Lernimpulse müssen aktuell so angelegt sein, dass sie einen Bezug zu mir (den einzelnen SuS) haben, so dass ich den Anreiz verspüre, mich selbst damit zu beschäftigen. Wir finden hier eine radikale Form der Schülerorientierung. Informelles und formelles Lernen vermischen sich auf diese Weise (endlich!) auch im Schulkontext.

Lernformen

Wenn Lehrkräfte jetzt zunehmend Übungen zu Online-Grammatik-Übungen, Basisskills oder Grundlagenwissen verschicken, dann zeigen sie eine Richtung auf, die sich bereits länger andeutet: Kleinschrittiges wird perspektivisch automatisiert werden. Die Rolle von LuL und Schule bleibt dann, Probleme oder Fragen aufzuwerfen, die offen formuliert sind, zu deren Lösung kollaborative Prozesse nötig sind (auch außerhalb der Schule) und an deren Ende ein Produkt steht; kurz: (fächerübergreifende) Projekte.

Bedeutung des Curriculums

In der Woche vor der Schulschließung konnte man Biologielehrer*innen noch sagen hören: Ich kann das Virus nicht behandeln, ich muss doch “meinen Stoff durchkriegen”. Nie wirkte es absurder als in dieser Situation, in der es eigentlich kein wichtigeres Thema gab. In den letzten drei Wochen wurde die Frage erneut aufgeworfen, was im Curriculum wirklich essentiell ist. Wie können wir weiter entschlacken, um Raum zu schaffen für die wichtigen Dinge. Im Webinar zum Thema dieses Beitrags schlug Simon Hassemer von der Josef-Durler-Schule in Rastatt vor, Zeit für die oben angesprochene und geforderte Selbstständigkeit freizublocken.

Prüfungsformate

Wir kommen auch ins Nachdenken darüber, wie ohne Präsenz und direkte Kontrolle Prüfungen neu konzipiert werden könnten. Sollen wir sie direkt abschaffen, wie Dejan Mihajlovic an anderer Stelle einmal forderte, oder sollen wir den Prozess selbst stärker in den Blick nehmen (auch zur Bewertung)? Oder geht es vielmehr um komplexe, offene Aufgabenstellungen, ergänzt um regelmäßige Selbsttests und Reflexionsmöglichkeiten zum Grundlagenwissen (vergleichbar mit der Konzeption der Alemannenschule Wutöschingen, Schulpreisträger 2019)?

Gerechtigkeitsfragen

Wie differenzieren wir, um verschiedenen Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden? Wie unterstützen wir, wenn die Voraussetzungen zuhause so unterschiedlich sind? Bisher haben wir uns als System oft eingeredet, dass man häusliche Unterschiede nicht nivellieren könne (obwohl wir es aus den Erfahrungen anderer Ländern hätten besser wissen können, siehe Kanada oder Neuseeland). Jetzt wird deutlich: Wir müssen genau das leisten; wir müssen früher ansetzen, und wir müssen den Prozess begleiten, gerade bei denen, die diese Unterstützung zuhause nicht erfahren.

 

Was können wir daraus lernen?

  1. Wir lernen gerade: Präsenzzeit und Begegnung sind wertvoll. Wir sollten diese gemeinsame Zeit möglichst effektiv für Lernprozesse nutzen, die den Dialog und die Spiegelung erfordern. Schülerinnen und Schüler von uns haben bereits an anderer Stelle Zukunftskonzepte von Schule entwickelt und vorgestellt, hier sei darauf verwiesen.
  2. Kommunikation & Kollaboration muss unabhängig vom Ort möglich sein, in der Schule wie außerhalb.
  3. Die Hinführung zum selbstständigen Arbeiten und Lernen sollte im Fokus stehen.
  4. Inhalte sollten an zentralen Weltproblemen ausgerichtet werden und häufig im Rahmen von Projekten erarbeitet werden (vgl. Marchtaler Plan der katholischen Schulen)
  5. Wir brauchen eine radikale Orientierung an den Interessen und Bedürfnissen der Lernenden.

 

Hinweis: Dieser Text entstand auf Basis des unten genannten Webinars für das ZSL Baden-Württemberg. Danke an die Moderation (Wibke Tiedmann und Jan Hambsch) sowie die Teilnehmer*innen für die zusätzlichen Impulse.Webinar-Corona

Kommentare

  1. Was ware zum Beispiel, wenn ein Schultag in der Woche ein Barcamp ware? Ein Tag, an dem Lehrende und Lernende die Rollen wechseln und der Austausch von Wissen, Konnen oder Erfahrungen im Mittelpunkt stunde. Ein Tag, an dem jede Person mitgestalten und sich einbringen konnte, weil im regularen Rahmen von Schule und Unterricht bisher dafur kein Raum vorhanden war – Raum fur die verborgenen Talente, Ideen und personlichen Interessen von Schulerinnen und Schulern. Es ware ein Tag, der nicht die Schulstruktur, aber die Schulkultur grundsatzlich andern wurde.

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